Die Beziehung zu Twitter ist – und das nicht nur bei mir – zu einer Art HassLiebe geworden. In Sachen Innovation, Zeitgeist und Begeisterung machte dem Dienst lange niemand etwas vor. Doch nach und nach zerfaserte die Nutzung entsprechend der Möglichkeiten, weil zu früh, zu viel begonnen und zu spät, zu langsam zu Ende gebracht worden ist. Die Trends setzen andere Dienste und ziehen auch in den Nutzer- und Umsatzzahlen vorbei.

Beim Social Media Club in Hamburg (#smchh), am 16. Februar 2015, war Hennig Dorstewitz, Head of Communications bei Twitter Deutschland, zu Gast. Ich selbst war eher zufällig und das auch ’nur‘ via (Achtung!) Twitter dabei, als folgendes Statement in meine Timeline gespült wurde:

Aber wissen das auch die User?

Erdacht wurde Twitter 2006 als Instant Messaging Dienst und war damit seiner Zeit gefühlte 27 Lichtjahre voraus, auch wenn geglaubt wurde, die aus SMS bekannte Zeichenbegrenzung auf 140 Zeichen (160 inkl. Nutzername) würde auch digital für immer Bestand haben. Dafür wurde die Bezeichnung Instant Messaging  zeitnah zu Gunsten der Positionierung als Microblog aufgegeben …

Über Twitter sollte man bekannten und unbekannten Menschen möglichst kurz und knackig (bzw. für Leute die das soziale Netz als Klowand bezeichnen: knurz und kackig) mitteilen was man gerade tut. Und zwar gerade im Sinne von ‚jetzt gerade‘.

Natürlich hat es nicht lange gedauert, bis zunächst (Makro-)Blogger Twitter zur Themenfindung, Diskussion und Veröffentlichung ihrer Inhalte nutzten – und mit letzterem einen Trend einläuteten, der bis heute anhält; doch dazu später.

Geschichte wird gezwitschert

Seit 2008 (fünf Jahre früher als die Implementierung bei Facebook) funktioniert der #Hashtag auf Twitter, so sollte die kommunikative Lücke zwischen privater Kommunikation über Direct Messages und öffentlichem Austausch in public in einer Art Gruppenchat geschlossen werden, als an WhatsApp noch gar nicht zu denken war.

Es gab plötzlich zwei Arten von Nutzern, denn der Hashtag entwickelte ein Eigenleben pendelnd zwischen Partizipation und Rezeption. Der Begriff Echtzeit-Suche war geboren und wurde bald auch in den Suchergebnissen von Google gewürdigt (und wieder negiert und wieder etabliert und …).

Bei aller Praktikabilität der Funktion, machte es Twitternachrichten mit # und @ und kryptisch gekürzter Links auch optisch zur Social Media Tech-Ecke.

Hinzu kam die damals noch ziemlich offene Schnittstelle, die verschiedenste auf dem Dienst aufbauende Services in den Weiten einer sattgrünen Spielwiese etablierte sowie integrierte – und die später teilweise von Twitter gekauft (Tweetdeck, Twitpic) bzw. verboten und dann ersetzt/eingeschränkt worden ist (Linkshortener, Twitterwalls, Analyse-Tools).

Twittervogel, Überflieger

Den ersten großen Schub in Sachen Relevanz und Bekanntheit – speziell in Deutschland – gab die Notlandung eines Passagierflugzeuges auf dem Hudson River, fotografiert, veröffentlicht und zehntausendfach geteilt von Janis Krum. Kennt ihr nicht?! Der Sprecher der Tagesschau um 20.00 Uhr an diesem Tag war nicht der einzige, der als Fotoquelle Twitter benannte; aber das ist ein anderes Thema. In den Medien war fortan häufig vom Kurznachrichtendienst Twitter die Rede.

DPA schickt Texte, Twitter überschriften

Anfang 2013 launchte Twitter die Videoplattform Vine (bevor Instagram, aber nachdem Facebook entsprechende Möglichkeiten erschloss). Es ging ähnlich wie bei der Mutterfirma um Prägnanz. Max. sechs Sekunden als Adäquat zu 140 Zeichen, natürlich in Echtzeit. Der Schritt Video auch nativ in das Original zu integrieren (Vgl. Facebook und Instagram) folgte erst knapp zwei Jahre später.

Messenger, Microblog, Real-Time-Search, Nerd- und Newschannel, Echtzeitvideos (hier eine Übersicht der Gründe, warum ein Tweet favorisiert wird); von einem Interessennetzwerk keine Spur und spätestens hier hatte Twitter die Macht über die eigene Wahrnehmung verloren. Doch es kam noch dicker, denn über Twitter hatte nicht nur Barack Obama das weiße Haus verteidigt, hier wurde die grüne Revolution organisiert und Tweets wurden aus dem All sowie aus dem Vatikan versendet (alles sic!).

Die richtigen Erkenntnisse und die falschen Schlüsse

Twitter startete bereits 2010 mit promoted Tweets, promoted Trends sowie promoted Accounts. Aber das Geld sammelte weiterhin Facebook ein, nicht weil Facebook besser sondern anders (nämlich einfacher, flexibler, gefälliger) war.

Authentizität, Originalität, Credibility (was Facebook fehlte und immer noch fehlt) standen trotz regelmäßig gestrandeter Wale für den Dienst mit den 140 Zeichen, die benannten Neuerungen führten das jedoch ad absurdum, wie User @cicero ca. 75 Jahre vor Christus via Twitter bekannt gab …

Anstatt den Echtzeitcharkater und den Open-Source-Gedanken voranzutreiben, die Möglichkeiten aus Mentions, Hashtags und Timestamps in exklusive Apps oder kostenpflichtige, aber werberelevante Tools umzumünzen, wurde daran gearbeitet, Twitter als Präsentations- und Werbeplattform für zahlende Kunden attraktiver zu gestalten:

1. Neue Profilansicht

Anfang 2014 stellte Twitter fest, dass Superstars wie Justin Bieber (den ich seit letzter Woche versuche in jeden Blogpost einzubauen), Katy Perry und Lady Gaga viele, sehr viele, so unglaublich viele Besucher haben, diese aber mit den optisch gleichberechtigten Tweets in chronologischer Reihenfolge wenig anfangen können.

Ein Blick rüber zu Facebook und klar, ein größeres, ansprechenderes, magazinigeres Design der Profile musste her. Außerdem häufig gesehene, geteilte, favorisierte (man weiß es nicht) Tweets mussten größer dargestellt werden, Fotos und Videos – auch über externe Dienste wie Youtube – sowieso. Was das mit Echtzeit und Relevanz zu tun hat? Eben.

2. Der Anti-Algorithmus

Natürlich kann es sein, dass ich wichtige Tweets meiner Followings verpasse, natürlich kann ich einen für mein Interesse wichtigen Twitterer noch nicht in meiner Liste haben. Doch ausgerechnet eine Art Algorithmus, der mich bei Google für jemanden hält, der gerne backt und dazu Techno hört oder mich bei Facebook als jemanden einschätzt, der auf Job- und Fitnessstudiosuche ist? Nein, danke.

Zum positiven, wahrlich gewinnbringenden Erlebnis auf Twitter gehört es, solche Tweets und Twiterati selbst zu entdecken. Nutzer findet Botschaft, Botschaft findet Nutzer, aber Kanal entscheidet über Botschaft für Nutzer? Ich wiederhole mich: nein, danke.

3. Sponsored Posts

Doch Werbung besteht (immer noch, aber nur teilweise zu Unrecht) aus Kampagnen und hat mit Echtzeit ungefähr so viel zu tun, wie Google+ mit sozialer Interaktion. Und wenn sich Fußballer gegenseitig beißen oder neue Apple Produkte sich unvorhergesehen biegen, dann ist das vielleicht ein kreatives Motiv mit bezahlter, sich wiederholender Anzeigenschaltung wert, aber es hat diese womöglich gar nicht mehr nötig.

Das Microblog-Image abzustreifen und die Echtzeit im Sinne zahlender Kunden klein zu reden, ist aus wirtschaftlicher Perspektive vielleicht nachvollziehbar, aber am Ende nur denen egal, die automatisiert ihre Artikel, Pins, Posts, Checkins, SumAlls, Paperlis twittern.

Es herrscht Anarchie auf Twitter

Nun kann man niemandem vorwerfen, einen Dienst so zu nutzen, wie es die Möglichkeiten hergeben: Konsum und Inspiration, Bildung und Gossip, Second Screen und Linkschleuderei, Spannen und Stalken, Netzwerke aufbauen, Image bilden, Organisationen schaffen, Reichweite generieren, Geschichten erzählen und Produkte verkaufen, Chats, Trends, News und Tools erleben und erlebbar machen …

Das Problem ist, dass kaum ein Nutzer sich für einen Weg oder Stil im Wortsinne entscheidet, sondern so fröhlich kombiniert, dass man gar nicht so schnell scrollen kann wie man entfolgen möchte, dass man in einem Moment vor Begeisterung und Interesse inne hält und im nächsten hofft, dass wenigstens gestern was spannendes passiert ist.

Ich bin nicht von Interesse, ich bin ein Interessent

Alles, was auf Twitter geschrieben, veröffentlicht und besprochen wird, betrifft je nach Sichtweise berechtigte Interessen und Twitter ist damit wie von @HenningD breitbeinig und breitbrüstig Kund getan ein Interessennetzwerk.

Doch tut er dies im Zusammenhang mit unwahrscheinlicher und wahrscheinlich unbeabsichtigter Transparenz sowie der so offensichtlichen Wahrheit, dass nicht Interessenten, sondern Interessen vernetzt und monetarisiert werden sollen. Das Internet der gefälligst zu denkenden Gedanken sozusagen … und auch diese These hat ihre passiven Follower.

Dabei ist es für ein vermeintlich soziales Netzwerk ein Armutszeugis. Vor allem dann, wenn man gegenüber seinen passiven und aktiven Stakeholdern das Gegenteil behauptet sowie darüber hinaus Nutzer und Kunden als Gegenpole ansieht und diese auch noch gegeneinander ausspielen möchte.

Die Hoffnung stirbt zuletzt, aber …

So ist es mit der HassLiebe. Man stellt Veränderungen fest, hofft, dass sich alles zum Guten wendet. Man erkennt in der Öffnung der Direct Messages und der Versammlung von Menschen in einem Gruppenchat den Weg hinzu einem temporären, dem Anlass angemessenen Interessentennetzwerk, unverbindlindlich wie Tinder oder Plague, echtzeitig wie Swarm oder YouNow, das Beste aus den Welten eben.

Die sozialen Netzwerke – sogar Twitter – haben schnell verstanden, dass mit vielen Usern viel Geld zu verdienen ist. Daraus den Schluss zu ziehen, dass es in erster Linie um Nutzergewinnung und -bindung geht, haben die wenigsten geschafft. Auch Twitter nicht.

Frage in die Runde: Wie seht ihr die Entwicklung und die Maßnahmen von Twitter? Ich möchte es nicht missen, aber ein wirklich zufriedener Nutzer bin ich momentan nicht …

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