Dass das Internet kaputt sein soll, hat schon Spreeblick im Sommer letzten Jahres behauptet, was aber weniger Beachtung fand als der Ausflug von Sascha Lobo in die Kohlenstoffwelt. Grundlage war jeweils die verschwundene Privatsphäre bzw. das Bekanntwerden der Nicht-Existenz derselben.

Der verwirrte alte Mann Hendrik M. Broder, bisher nicht als Freund des Internets aufgefallen, widersprach mit einem Wasser-Gleichnis. Womit er der Problematik näher kommt als er vielleicht ahnt.

Noch schneller, aber ebenso widersprechend, reagierte netzwertig.com: nicht das Internet, sondern der Mensch ist kaputt, so die Überschrift. Es lebe die Verallgemeinerung!

Dazu sechs Fragen:

  • Ist das Internet kaputt, weil Staaten und Geheimdienste es für die Überwachung unbescholtener Bürger nutzen?
  • Ist das Internet kaputt, weil es für Wirtschaftsspionage missbraucht wird?
  • Ist das Internet kaputt, weil es von einer handvoll (US-)Unternehmen dominiert wird?
  • Ist das Internet kaputt, weil Amazon seine Mitarbeiter schlecht bezahlt?
  • Ist das Internet kaputt, weil es Internetkriminalität gibt (wozu auch Anwälte zählen, die Spaß am Abmahnen finden)?
  • Ist das Internet kaputt, weil es Justin Bieber zu einem Star machte?

Ja, das Internet ist eindeutig kaputt

Natürlich sind all diese Dinge belastend, verstörend und schockierend, aber wenig überraschend. Technische Errungenschaften schaffen Möglichkeiten und Möglichkeiten werden genutzt und zwar von guten, gierigen, geizigen, bösen und zum Teil auch singenden Menschen. Das muss man nicht mögen, aber man darf sich vor allem nicht damit abfinden.

Mit der Entwicklung des Internets wurden zum Beispiel lange vor den Enthüllungen aus dem letzten Jahr zwei mahnende Sätze geboren, die insbesondere von der so genannten Netzgemeinde propagiert wurden.

  • Das Internet darf kein rechtsfreier Raum sein. (von manch optimistisch-progressiven Vertretern auch als ‚Das Internet ist kein rechtsfreier Raum‘ formuliert)
  • Das Internet vergisst nicht.

Der erste Satz bringt ein großen Teil des Dilemmas um das kaputte Internet auf den Punkt. Staaten vereinbaren grenzüberschreitende Gesetze für gekrümmte Bananen, etablieren eine gemeinsame Währung, reißen zu Recht Grenzen für Mensch und Ware ein. (Leider in dubiosen Handelsabkommen, aber das ist ein anderes Thema …)

Der Punkt ist, dass Vereinbarungen, das Internet betreffend, nicht zu Stande kommen, es sei denn, fünf große Augen blinzeln sich im Sinne von geheimen Geheimoperationen zu.

Doch nicht nur international gibt es diese Problematik der Rechtsunsicherheit, wenn es um Stalking, Spamming, Streaming oder Netzneutralität geht.

Dass das Internet nicht(s) vergisst, ist natürlich eine maßlose Übertreibung, bringt aber die scheinbar grenzenlose Speichermöglichkeiten der virtuellen Wolken (inkl. Suchen und Finden) ganz gut auf den Punkt – und wir sind wieder beim rechtsfreien Raum und damit vielleicht bei den Lösungsansätzen.

Nein, das Internet ist nicht kaputt

Regierungen werden gewählt (in Einzelfällen auch bestimmt oder festgelegt), sie treten in Arbeitsbeziehungen mit anderen Regierungen, sie erarbeiten und verabschieden Gesetzen, zum Wohl der Bürgerinnen und Bürger. Soweit die Theorie.

Fakt aber ist, dass wir einen kompetenten und entscheidungsfreudigen Gesetzgeber benötigen, der Willens und in der Lage ist, auch für die digitale Welt Grenzen zwischen Legalität und Illegalität zu definieren und Lösungen zur Einhaltung dieser Grenzen anzubieten, ohne sich auf die Speicherfrist von Vorratsdaten (schlimmes Wort, allein der erste Teil des Kompositums verdeutlicht das Problem) beschränken.

Wir brauchen eine politische Struktur, die Alternativen zu Quaismonopolisten im Netz genauso fördert, wie Programme, die das Verständnis für Chancen und Risiken im selbstbewussten und selbstbestimmten Umgang dem Internet in möglichst allen Schichten verankert. Also Aufklärung als Gegenteil von Überregulierung.

Das schlimmste, was passieren kann (und was sich gerade anbahnt)ist, dass die, die das Internet in weiten Teilen verstehen, sich resigniert zurück ziehen und sich mit diesem Verhalten auf eine Stufe mit ihren ehemaligen Gegnern stellen.

Schirrmacher und Broder als die letzten Verfechter des Internets? Bitte nicht.

Zwar haben übertriebener Optimismus und elitäre Euphorie der Internetversteher leider viel dazu beigetragen, das Netz in der Tiefe seiner Möglichkeiten lange zu einem mehr oder weniger abgeschlossenen Raum mit gefühlten und echten Barrieren zu machen, aber ihre Einstellung war es auch, die das Entwicklungstempo ausgemacht hat und weiter ausmachen sollte.

Disclaimer:

‚Dieses Internet‘ ist eine Technologie, weder gut noch böse, die uns Weiterbildung, Vernetzung, Verwirklichung und Unterhaltung in einem Maße ermöglicht, für das das Wort Luxus eine gigantische Untertreibung wäre. Diese Möglichkeit nicht mehr wahrzunehmen, wäre ein gesellschaftlicher Rückschritt ohne Vergleich – trotz NSA, Amazon und Justin Bieber.