Es sind mal wieder Wahlen in der Hauptstadt. Die Medien haben eine gewisse Langeweile festgestellt, weil das Krododil Wowereit (SPIEGEL) Konkurrenten einfach so wegbeißen kann und obwohl es angeblich so viele rathausgemachte Probleme gibt, die einer Lösung bedürfen. Und tatsächlich lassen die momentanen Umfragewerte gepaart mit den Statements der verantwortlichen Politiker Langeweile zumindest vermuten. Dabei könnte es noch ganz spannend werden.

Die SPD kann sich rot-grün und rot-rot vorstellen, für letzteres wird es aber nach jetzigem Stand nicht reichen. Leider aus Sicht des regierenden Bürgermeisters. Die beiden Parteien haben sich in zehn Jahren aneinander gewöhnt und für die SPD wäre die Arbeit mit einer geschwächten Linken sicher einfacher als das Regieren mit den erstarkten Grünen, was zum Beispiel die Anzahl der Senatoren betrifft. Die Grünen wollen – bei nicht vorhandenen Alternativen für eine Regierungsbeteilgung ein Zeichen von Realismus – unbedingt rot-grün. Eine befriste Ehe mit der Union können sich weder Wowereit noch Künast vorstellen, aber das hat auch niemand erwartet. Die LINKE braucht sich zu dieser Option gar nicht äußern. Was Inhalt und vorhandene Wählerstimmen angeht, bedürfte es gleich mehrerer Wunder, bevor schwarz-rosa ein ernsthaft diskutiertes Thema werden wird. (Aber lustig wäre es allemal.)

Doch was passiert mit den Piraten? Ihr wahrscheinliches Einziehen in das Abgeordnetenhaus könnte zunächst eine Wiederauflage von Rot-Rot verhindern. Oder anders gesagt: bei einem Nicht-Einzug von Piratenpartei (und FDP) könnte eine Regierung bereits mit 42,5% der Wählerstimmen gebildet werden (Piraten, FDP und sonstige liegen laut Umfragen bei ca. 15%). Wenn die Piraten es schaffen, könnten sie statt einem Anker einen Rettungsring für die Linken werfen und sich an einer roten Regierung beteiligen. Ob sie dies nach dem ersten großen Wahlerfolg können oder wollen oder dürfen, ist eine Rechnung mit ziemlich vielen Unbekannten und macht das Vorhaben taktische Wahl beinahe unmöglich.

Ich stehe zu der rot-roten Regierung und habe meine Stimme bei den letzten beiden Wahlen (davor durfte ich noch nicht) für diese Konstellation gegeben, obwohl mir beide Parteien als Unternehmer zum Teil zu sozialistisch sind, was zum Beispiel die Nähe zu Gewerkschaften und den Hang zu Privatisierungen angeht, und auf Bundesebene häufiger verwirren, als begeistern (Stichwort: Fidel Castro). Eine Alternative sah ich bisher  nicht. Der liberale Turbokapitalismus und die christlich gesteuerte Überwachung in Zusammenhang mit der zu häufig negierten Multi-Kultur sind mir ein Graus. Kandidaten wie Steffel, Pflüger und Henkel konnten die Antipathie kaum auflösen. Wie heißen und hießen noch mal die Spitzen-Politiker der FDP?

Ich stimme Wowereit zu, dass die Kernprobleme meiner Heimatstadt vor allem auf den Filz und das Missmanagement von Diepgen und Landowski zurückzuführen sind. Ich unterstütze rot-rot in dem Bemühen, die Kreativwirtschaft und den Tourismus in den Mittelpunkt zu stellen und eben nicht den sinnlosen Versuch zu unternehmen, aus Berlin wieder einen Industriestandort zu machen. Ich bewundere sogar das Finanzmanagement dieser Stadt in den letzten Jahren. Was Wowereit und der Wirrkopf Sarrazin an Sparmaßnahmen durchsetzen konnten, ist mehr als beachtlich.

Natürlich gibt es ein Arbeitslosenproblem, ein Bildungsproblem, ein Gentrifizierungsproblem in Berlin. Diese werden aber bestimmt nicht durch weniger Steuern (FDP), mehr Polizisten (CDU) und Scheindebatten um Flug- und Autobahnrouten (Grüne) gelöst. Von bedingungslosem Grundeinkommen und Gratis S-Bahnfahrten (Piraten) ganz zu schweigen.  Tatsächlich bleiben die Lösungsansätze in diesem Wahlkamp auch bei SPD (Berlin verstehen) und Linke (Berlin boomt, alle sollen profitieren) mehr als vage.

Aber wie gesagt, ich bin zufrieden mit der Berlin-Politik dieser Regierung, beinahe optimistisch und sogar beruhigt, dass der alte Bürgermeister auch der neue Bürgermeister sein wird. Aber ich werde ihn nicht wählen. Auch die Linke wird auf meine Stimme verzichten müssen. Ich wähle die Piraten.

Was wie ein Widerspruch klingt, ist in Wahrheit eine Konsequenz, die ich bei der letzten Bundestagswahl begonnen habe und nun fortsetze. Die Piraten bringen die Themen Datenschutz sowie die Existenz und die Relevanz des Internet auf die Agenda, wie es keine andere Partei will oder kann. Ich weiß, es sind keine Themen, die vom Abegordnetenhaus aus das Land verändern können, aber es sind Themen die angesprochen, ja, angegangen werden müssen. Und zwar auf Bezirks-, Landes- und Bundesebene. Diese Wahlen am 18. September 2011 können ein Anfang sein. Der oft beschworene Vergleich zu der Gründungsszene der Grünen (gegen Atomkraft und für Umweltschutz) wird sich erst in 20 Jahren bestätigen oder in Luft auflösen. Aber darum geht es auch nicht. Die etablierten Parteien haben die Existenz der Piratenpartei durch Ignoranz erst möglich und sogar notwendig gemacht.

Diese Wahlen sind die spannendsten und wichtigsten Berlin-Wahlen seit langen, aber garantiert nicht langweilig.

P.S. Wer nicht wählt wird klein und dick.